BALLADE VON DER GEMEINSAMEN SCHÜSSEL (Worte: Jura Soyfer) - Christoph Holzhöfer
BALLADE VON DER GEMEINSAMEN SCHÜSSEL
"Genug gekämpft! Die Zeit ist schwer,
Vertragen wir uns ein bissel!"
So sprach zum Knechte fromm der Herr.
"Komm, iss an meiner Schüssel!"
Umstrahlt von Klassenharmonie,
Ölzweige in den Haaren.
So nahmen Platz am Tische sie,
Wie vor zweihundert Jahren.
Der Herr griff in die Schüssel und
Nahm sich den größten Happen.
Dann öffnete der Knecht den Mund,
Wollt' in die Schüssel tappen.
"Halt!" rief der Herr, "dir fehlt, ich seh 's,
Das nationale Gewissen!
Gedenk des mageren Staatsbudgets!"
Und nahm den zweiten Bissen.
Der Knecht griff wieder in den Topf.
"Halt!" sprach der Herr aufs neue.
Denk' nach! Wo hast du deinen Kopf?
Jetzt komm doch ich an die Reihe!"
Sprach 's, aß. "Herr ich bin arbeitslos,
Sagte der Tischgenosse,
"Ach, lassen sie mich einmal bloß ..."
Und griff nach einem Kloße.
Den schnappte aber der Herr geschwind.
"Sei doch nicht ungeduldig!
Wir sind ein armes Land, wir sind
Den Knödel dem Ausland schuldig.
Zur Abwechslung komm ich nun dran ..."
Sprach er und aß gleich weiter.
"Und jetzt wohl ich?" bat leis' der Mann,
"Ich war Saisonarbeiter ..."
"Saisonarbeiter?" schrie der Herr,
"Dann warte noch zwei Wochen!"
Und aß und aß und ließ nur mehr
Im Topfe übrig die Knochen.
"Gebt! Hunger plagt mich!" hat verstört
Der Knecht zuletzt dem Herrn beteuert.
"Du hast genug am Staat gezehrt,
Jetzt wirst du ausgesteuert!
Ich selbst mag zwar den Knochen nicht,
Doch will mein Bluthund naschen.
Mahlzeit, mein Freund, tu deine Pflicht
Und geh die Schüssel waschen!"
"Nein!" - "Nein? Verhetzter, fort von hier!
Auf deinen Proletenrüssel,
Den frechen, schmeiße sonst ich dir
Unsere gemeinsame Schüssel!"
Sprach 's, tat 's. Die Klassenharmonie
Nahm so einen trüben Verlauf.
Der Knecht, sonst fromm, protestierte und schrie.
Umsonst. Er hatte, so gründlich wie nie,
Den (gemeinsamen) Scherben auf.
Worte: Jura Soyfer
Arbeiter-Sonntag (Arbeiter-Zeitung), 1. Oktober 1933
https://www.youtube.com/watch?v=FsOb5imF5LY
"Genug gekämpft! Die Zeit ist schwer,
Vertragen wir uns ein bissel!"
So sprach zum Knechte fromm der Herr.
"Komm, iss an meiner Schüssel!"
Umstrahlt von Klassenharmonie,
Ölzweige in den Haaren.
So nahmen Platz am Tische sie,
Wie vor zweihundert Jahren.
Der Herr griff in die Schüssel und
Nahm sich den größten Happen.
Dann öffnete der Knecht den Mund,
Wollt' in die Schüssel tappen.
"Halt!" rief der Herr, "dir fehlt, ich seh 's,
Das nationale Gewissen!
Gedenk des mageren Staatsbudgets!"
Und nahm den zweiten Bissen.
Der Knecht griff wieder in den Topf.
"Halt!" sprach der Herr aufs neue.
Denk' nach! Wo hast du deinen Kopf?
Jetzt komm doch ich an die Reihe!"
Sprach 's, aß. "Herr ich bin arbeitslos,
Sagte der Tischgenosse,
"Ach, lassen sie mich einmal bloß ..."
Und griff nach einem Kloße.
Den schnappte aber der Herr geschwind.
"Sei doch nicht ungeduldig!
Wir sind ein armes Land, wir sind
Den Knödel dem Ausland schuldig.
Zur Abwechslung komm ich nun dran ..."
Sprach er und aß gleich weiter.
"Und jetzt wohl ich?" bat leis' der Mann,
"Ich war Saisonarbeiter ..."
"Saisonarbeiter?" schrie der Herr,
"Dann warte noch zwei Wochen!"
Und aß und aß und ließ nur mehr
Im Topfe übrig die Knochen.
"Gebt! Hunger plagt mich!" hat verstört
Der Knecht zuletzt dem Herrn beteuert.
"Du hast genug am Staat gezehrt,
Jetzt wirst du ausgesteuert!
Ich selbst mag zwar den Knochen nicht,
Doch will mein Bluthund naschen.
Mahlzeit, mein Freund, tu deine Pflicht
Und geh die Schüssel waschen!"
"Nein!" - "Nein? Verhetzter, fort von hier!
Auf deinen Proletenrüssel,
Den frechen, schmeiße sonst ich dir
Unsere gemeinsame Schüssel!"
Sprach 's, tat 's. Die Klassenharmonie
Nahm so einen trüben Verlauf.
Der Knecht, sonst fromm, protestierte und schrie.
Umsonst. Er hatte, so gründlich wie nie,
Den (gemeinsamen) Scherben auf.
Worte: Jura Soyfer
Arbeiter-Sonntag (Arbeiter-Zeitung), 1. Oktober 1933
https://www.youtube.com/watch?v=FsOb5imF5LY
chrdylan - 15. Jun, 17:49